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Gänsehaut am Bühnengraben

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Robert und Shan Dark stellten in ihrem Blog-Projekt „Gothic Friday“ die Frage nach dem schönsten Live-Erlebnis. Meine erste Reaktion: tolles Thema! Nachdem das Gehirn aber ausgiebig nach verschollenen Erinnerungen „gefahndet“ hat und nostalgische Gefühle in Fülle produziert wurden, stellte ich mir nur noch eine Frage: Was haben sich die beiden dabei nur gedacht? EIN Erlebnis aus einem Vierteljahrhundert? Kaum möglich – so unterschiedlich die Eindrücke. Vieles hat sich ins Gedächtnis gegraben – manches sicherlich in einer gewissen Verklärtheit.

Begonnen hat alles Anfang der 80er Jahre. Doch leider kann ich weder von einem unvergesslichen Depeche-Mode-Konzert, noch von einem einprägsamen Siouxie-And-The-Banshees- oder schweißtreibenden Dead-Kennedys-Auftritt berichten. Bei meinem ersten Konzerterlebnis stand die „Spider Murphy Gang“ auf der Bühne. Nun ja, mit „Skandal im Sperrbezirk“ wurde zumindest der klassische konservative CSU-Wähler in Bayern gehörig provoziert. Was mich damals natürlich wenig interessierte. Ich war zehn Jahre alt und in Begleitung meiner Eltern. Trotzdem irgendwie beeindruckend. Und scheinbar auch unvergesslich?

Wie dem auch sei, es folgten zahlreiche Konzerte aus dem Punk-, Metal-, Independent-, Electro- und was weiß ich Bereich. Nur welches war nun das EINE? Das schönste Live-Erlebnis?

War es das erste Punkkonzert, als ich dachte, dass ich das Binden der Schnürsenkel nicht überleben würde, ich während der Aktion aber nicht einmal berührt wurde?

Oder war es der vollkommen unerwartete Auftritt von „Les Tambours Du Bronx“ in St. Etienne im Jahre 1998? Ich habe damals meine Kameraausrüstung nach Frankreich geschleppt, um die Stimmung einer Fußballweltmeisterschaft fotografisch einzufangen. So stand ich also eines Abends anlässlich des „Public Viewing“ – wie es auf neudeutsch heißt – auf dem Marktplatz einer französischen Stadt, wo auch eine Bühne stand. Auf selbige trat plötzlich eine „Horde“ junger Männer, die leeren Ölfässern mitreißende, teils hypnotische Rhythmen entlockten. Beeindruckend.

Auch beim Wave-Gotik-Treffen gab es unvergessliche Momente. So beispielsweise den ersten und einzigen Auftritt von „The Retrosic“. Professionell. Abwechslungsreich. Sehens- und hörenswert. Für eine Formation aus dem elektronischen Bereich nicht wirklich alltäglich.

Oder „The Cassandra Complex“, die nach jahrelanger Pause den Weg zurück auf die Bühne fanden. Sänger Rodney Orpheus´ kindliche Freude über die wohl unerwartete Begeisterung des Publikums und seine schier grenzenlose Leidenschaft – ein wahrer Genuss.

Sogleich fällt mir auch ein Konzert im legendäre Berliner Club „SO36“ ein. Der Auftritt der New Yorker Hardcore-Pioniere „Agnostic Front“ war so mitzureißen, dass ich mich das erste und einzige Mal in meinem Leben im Stagediving versuchte. Auf Händen getragen zu werden, ist durchaus eine angenehme Freizeitbeschäftigung.

Ende der 90er Jahre „Oomph!“ im kleinen Rahmen einer Kneipe zu erleben – ebenfalls unvergesslich. Bühne und Tresen waren vielleicht fünf Meter auseinander. Für die etwa 20 bis 30 Anwesenden spielte sich die Wolfsburger Band den sprichwörtlichen Allerwertesten ab. Nicht jede Gruppe würde wohl so auf eine doch enttäuschende Besucherzahl reagieren.

Oder „Laibach“ vor dem „brennenden“ Völkerschlachtdenkmal in Leipzig bei sintflutartigen Regenfällen – ganz großes Kino. Wobei der atemberaubende Anblick des scheinbar in Flammen stehende Monuments und die Erkenntnis, dass ich einige Kleidungsstücke mein eigen nenne, die eine unbegrenzte Wasseraufnahmefähigkeit besitzen, am deutlichsten vor dem geisten Auge abzeichnet.

So unterschiedlich die Bands, so unterschiedlich die Eindrücke. Und mir ist, als hätte ich viele grandiose Erlebnisse noch gar nicht aus den Tiefen meines Gedächtnisses hervorgekramt…

…und so habe ich jetzt auch noch den Fehler gemacht, alte Konzerttickets anzusehen. Das macht die Liste nur noch viel länger – kommen mir dadurch doch fast unzählige „Höhepunkte“ in den Sinn, die ich auf keinen Fall unerwähnt lassen dürfte. Legendäre und nicht mehr existierende Bands wie die „Ramones“ oder die „Pixies“ oder… ja, ja, ich möchte niemanden langweilen und werde mich nun vehement gegen diese nostalgischen Gefühle wehren. Danke Robert. Danke Shan Dark. Ihr schafft es doch immer wieder, die sehnsuchtsvollen Gedanken an alte Zeiten aufsteigen zu lassen. Wobei ich mich gar nicht so sehr nach diesen Zeiten sehne. Das Hier und Jetzt bietet auch eine Fülle an guter Musik, die ich ungemein genieße. Und so habe ich mich „spontan“ für eine Mischung entschieden. Ein relativ aktuelles Erlebnis mit einer Band, die mich bereits ein Vierteljahrhundert begleitet:

NEW MODEL ARMY am 28.11.2010 in Berlin

Justin Sullivan von New Model ArmyDas Saallicht in Huxley´s Neue Welt scheint hell. „New Model Army“ haben bereits vor zehn Minuten die Bühne verlassen. Die Halle wird mit Musik aus der Konserve beschallt. Die Roadies haben längst mit dem Abbau begonnen. Und trotzdem hat sich der Saal kaum geleert. Ein Großteil des anwesenden, internationalen Publikums klatscht ausdauernd, johlt, jubelt frenetisch und bedankt sich damit bei einer außergewöhnlichen Band für einen unvergesslichen Auftritt. Dies war aber keineswegs der einzige Augenblick des Abends mit Gänsehautfaktor.

Der herausragenden Leistung dieser Ausnahmeband wird man mit Worten höchst unzureichend gerecht. Doch von Beginn an: Zum 30jährigen Bandjubiläum hatten sich „New Model Army“ etwas Besonderes einfallen lassen. Auf zwei Tage verteilt wurden etwa 55 (!) Titel aus drei Jahrzehnten vorgetragen. Beide Tage begannen mit einem ruhigeren, halb-akustischen, 40-minütigen Teil. Sänger/Gitarrist Justin Sullivan betrat hierzu anfänglich einzig in Begleitung von Gitarrist/Keyboarder Dean White die Bühne, um mit „Heroes“ das zweite Berlin-Konzert eindrucksvoll zu beginnen.

Eindringlich wurde „Another Imperial Day“ von Justin Sullivan komplett a Cappella vorgetragen – die bereits angesprochene Gänsehaut inklusive:

(…) find a place to hide in a stack of containers | another payload of world trade because | goods are free to move but not people | oil is free to move but not people | jobs are free to move but not people | money is free to move but not people (…)“

Der Mann ist nicht nur ein charismatischer und sympathischer Sänger; er hat auch etwas zu mitzuteilen.

Weitere „stille“ und packende Momente folgten, ehe eine 20-minütige Pause, welche möglicherweise den betagteren Fans der ersten Stunde geschuldet war, den Auftritt kurzzeitig unterbrach… um anschließend allerdings umso mitreißender fortgesetzt zu werden.

Der Sound hätte nicht besser abgemischt sein können. Und trotz aller Professionalität, welche die Band auszeichnet und trotz der zahlreichen Konzerte, welche in der langen Karriere bereits absolviert wurden, spürte man keine Müdigkeit. Im Gegenteil: „New Model Army“ stecken noch immer voller Energie und Leidenschaft.

Melancholische, schwermütige und kraftvolle Titel geprägt von einer melodischen Basslinie, intensiver, treibender und mitreißender Rhythmen, der charakteristischen Stimme und eindringlichen Texten von Justin Sullivan, der konstanten Größe der 30jährigen Bandgeschichte – die Spielfreude, Ehrlichkeit und Authentizität der Band ist kaum zu übertreffen.

Im Grunde ist es schwer bis unmöglich, einzelne Titel aus einem homogenen Auftritt hervorzuheben. „Here Comes The War“ hat mich persönlich aber besonders begeistert – so eindrucksvoll, mitreißend und bewegend vorgetragen, dass die bereits erwähnte Gänsehaut beim „stürmischen“ Refrain nicht lange auf sich warten ließ. So voller Wut und Schmerz. Doch auch die anderen Titel waren voller Leiden und Zorn. Und empfindsamer Beobachtungen. Aber ebenso Lebenslust und Hoffnung.
 

Justin Sullivan hat es in einem Interview vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht:

Lieder können die Welt nicht verändern, aber sie verbinden das Publikum. Die Fans sind unsicher, sie merken, dass da draußen vieles falsch läuft. Sie fühlen sich allein, kommen zu Konzerten und erleben, dass sie nicht alleine sind. Es ist eine Art Bestätigung, ein Kraftschöpfen, das sehr wichtig ist.“

Fast kein NMA-Konzert ohne die nicht nur auf den Schulter sitzenden, sondern teils auch stehenden Fans, die jedes gesungene Wort zelebrieren, theatralisch die Arme bewegen und vollkommen in dem jeweiligen Song aufzugehen scheinen. Selbstverständlich auch in Berlin.

Nach 135 Minuten reiner Spielzeit, drei Zugaben und dem erwähnt langanhaltenden Applaus konnte man in zahlreiche glückliche Mienen blicken. „New Model Army“ zauberten ein Lächeln in die Gesichter alter sowie junger Musikliebhaber. Und ich glaube, dass einige sogar eine Träne der Verzückung verdrückt haben.

Danke „New Model Army“.


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